Die Anomalie von Hervé Le Tellier

Susan Ehmke • 9. April 2025

Eine packende, kluge Geschichte voller Gedankenspiele

Wenn Realität plötzlich doppelt existiert

Was wäre, wenn plötzlich alles auf den Kopf gestellt würde? Wenn dein Leben - ganz real - zweimal existiert Wenn ein Ereignis alles infrage stellt, was du für sicher gehalten hast? Falls dich solche Fragen faszinieren, dann wird dich Die Anomalie von Hervé Le Tellier nicht mehr loslassen. Genau das ist mir passiert. Und genau deshalb möchte ich dir heute dieses außergewöhnliche Buch vorstellen - persönlich, ohne Spoiler, aber mit viel Begeisterung.


Warum ich dieses Buch gelesen habe

Ich liebe Geschichten, die mit unserem Verständnis von Zeit, Raum und Identität spielen. Bücher, bei denen ich nach der letzten Seite noch lange grüble: „Was wäre, wenn ...?“ Die Anomalie hat mich genau da abgeholt. Es ist ein Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch fordert – intellektuell, emotional und philosophisch.

Schon nach den ersten Kapiteln wusste ich: Das hier wird keine gewöhnliche Geschichte. Hervé Le Tellier gelingt etwas, das nur wenige Autoren schaffen – er verbindet Spannung mit Tiefgang, Figuren mit Leben, Fiktion mit fast schon bedrückender Realität.


Worum geht’s in Die Anomalie?


Die Grundidee ist schnell erklärt - und dabei so genial wie verstörend. "Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal in New York. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt − sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt." [Klappentext der Taschenbuchausgabe]


Was sich wie der Beginn eines Science-Fiction-Thrillers anhört, entwickelt sich zu einer tiefgründigen, klug konstruierten Geschichte über Identität, Entscheidungsfreiheit und die Frage, wie wir mit dem Unbegreiflichen umgehen.


Die Figuren: Vielfältig, lebendig, greifbar

Eines der Highlights dieses Romans sind für mich ganz klar die Protagonisten. Obwohl es viele Perspektiven gibt, wirkt keine Figur blass oder oberflächlich. Im Gegenteil: Ich hatte beim Lesen das Gefühl, jede einzelne Person zu sehen. Ob der rücksichtslose Auftragskiller Blake, die alleinerziehende Lektorin Lucie, der homosexuelle Rapper Slimboy oder der erfolglose Schriftsteller Victor – sie alle werden mit wenigen, aber sehr präzisen Mitteln gezeichnet. Le Tellier schafft es, ihre Innenwelt sichtbar zu machen: ihre Zweifel, Hoffnungen, Ängste. Und das ist entscheidend, denn die große Frage, die sich alle stellen müssen, lautet: Wie gehst du damit um, wenn du plötzlich einem zweiten Ich gegenüberstehst? Ein Ich, das genau dieselben Erinnerungen, Erlebnisse und Gedanken hat - bis zu dem Moment, an dem sich die Realität aufspaltet.


Der Stil: Intelligent, klar, mit feinem Humor

Was mir besonders gefallen hat, ist der Stil des Buches. Le Tellier schreibt klar, aber nicht simpel. Intellektuell, aber nie abgehoben. Und er hat diese feine ironische Note, die mir immer wieder ein Lächeln entlockt hat - selbst in Momenten, in denen das Geschehen eigentlich eher erschreckend oder tragisch ist.


Besonders spannend: Das Buch wechselt zwischen verschiedenen Genres

Mal liest es sich wie ein Thriller, mal wie ein psychologischer Roman, dann wieder wie ein philosophisches Gedankenexperiment. Dieser Wechsel macht das Lesen unglaublich abwechslungsreich - und er passt perfekt zum Thema, denn auch die Realität in Die Anomalie ist alles andere als eindeutig.


Große Themen, klug erzählt

Was mich an diesem Buch so nachhaltig beschäftigt hat, ist seine Vielschichtigkeit. Es geht um viel mehr als nur um ein mysteriöses Flugzeug. Es geht um:


  • Identität: Was macht dich aus? Deine Erinnerungen? Deine Entscheidungen? Dein Körper?
  •  Moralische Verantwortung: Wenn zwei Versionen von dir existieren - welche ist die "richtige"? Haben beide dasselbe Recht auf Leben?
  • Wissenschaft vs. Glaube: Wie gehen Wissenschaftler, Militärs und religiöse Führer mit einem Ereignis um, das alle bisherigen Erklärungsmodelle sprengt?
  • Liebe und Beziehung: Was passiert mit Paaren, wenn es plötzlich eine zweite Version ihrer gemeinsamen Geschichte gibt?


All diese Fragen stellt das Buch und überlässt dir als Leser die Antworten. Kein Kapitel ist abgeschlossen. Kein Gedanke wird zu Ende gedacht. Du wirst eingeladen, weiterzudenken. Und genau das macht für mich die Stärke dieses Romans aus.


Persönliches Fazit

Wenn du Bücher magst, die deinen Kopf beschäftigen und dein Herz berühren, dann ist Die Anomalie absolut lesenswert. Es ist ein Roman, der dich dazu bringt, deinen Blick auf die Welt (und auf dich selbst!) zu hinterfragen. Ein Buch, das unter die Haut geht, ohne laut oder dramatisch zu sein. Und eines, das noch lange nachwirkt.


Ich habe es fast in einem Rutsch gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und habe danach tagelang darüber nachgedacht. Genau diese Mischung aus Spannung, Tiefe und Originalität wünsche ich mir öfter in der Literatur.


5 Sterne - Absolute Leseempfehlung!


Titel: Die Anomalie

Urheber: Le Tellier, Hervé / Ritte, Romy / Ritte, Jürgen

Verlag: Rowohlt

Erscheinungstermin: 17.08.2021

Produktform: Hardcover

Seitenanzahl: 352

ISBN: 978-3-498-00258-9


Titel: Die Anomalie

Urheber: Le Tellier, Hervé / Ritte, Romy / Ritte, Jürgen

Verlag: ROWOHLT Taschenbuch

Erscheinungstermin: 16.08.2022

Produktform: Softcover

Seitenanzahl: 352

ISBN: 978-3-499-00697-5


Auch als Hörbuch auf Audio-CD und als Kindle E-Book erhältlich.


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