Zwischen Welten von Juli Zeh & Simon Urban

Susan Ehmke • 24. Oktober 2024

Ein Roman über die Risse, die durch unsere Gegenwart gehen

Es gibt Bücher, bei denen du schon nach den ersten Seiten spürst: Das wird nicht nur eine Lektüre, das wird ein Gespräch. Und nicht irgendein Gespräch, sondern eines, das weh tut, rührt, provoziert, aufrüttelt - und dir das Gefühl gibt, Teil von etwas Größerem zu sein. Zwischen Welten ist so ein Buch.

Ich habe es mir gekauft, weil Juli Zeh eine meiner Lieblingsautorinnen ist. Ihre klugen Gesellschaftsdiagnosen und die Art, wie sie komplexe Themen auf menschliche Schicksale herunterbricht haben mich schon bei Unterleuten oder Leere Herzen begeistert. Dass sie dieses Mal zusammen mit Simon Urban in Form eines E-Mail-Romans schreibt, hat mich sofort angesprochen. Ich liebe dieses Format! Wer Gut gegen Nordwind von Daniel Glattauer kennt oder Fanmail von Ronald Munson kennt, der weiß, was ich meine: Wenn Figuren sich Nachrichten schreiben, ohne einander gegenüberzustehen, entsteht oft eine besondere Nähe. Und gerade das macht Zwischen Welten so stark - weil Nähe immer wieder gegen Ferne kämpft.


Worum geht’s in Zwischen Welten?


Zwanzig Jahre sind vergangen: Als sich Stefan und Theresa zufällig in Hamburg über den Weg laufen, endet ihr erstes Wiedersehen in einem Desaster. Zu Studienzeiten waren sie wie eine Familie füreinander, heute sind kaum noch Gemeinsamkeiten übrig.


Stefan hat Karriere bei Deutschlands größter Wochenzeitung DER BOTE gemacht, Theresa den Bauernhof ihres Vaters in Brandenburg übernommen. Aus den unterschiedlichen Lebensentwürfen sind gegensätzliche Haltungen geworden. Stefan versucht bei seiner Zeitung, durch engagierte journalistische Projekte den Klimawandel zu bekämpfen. Theresa steht mit ihrem Bio-Milchhof vor Herausforderungen, die sie an den Rand ihrer Kraft bringen.


Die beiden beschließen, noch einmal von vorne anzufangen, sich per E-Mail und WhatsApp gegenseitig aus ihren Welten zu erzählen. Doch während sie einander näherkommen, geraten sie immer wieder in einen hitzigen Schlagabtausch um polarisierende Fragen wie Klimapolitik, Gendersprache und Rassismusvorwürfe. Ist heute wirklich jeder und jede gezwungen, eine Seite zu wählen? Oder gibt es noch Gemeinsamkeiten zwischen den Welten? Und können Freundschaft und Liebe die Kluft überbrücken?


Zwei Leben, zwei Welten


Stefan und Theresa. Früher mal sehr eng. Vielleicht ein Paar, vielleicht auch nicht. Jetzt schreiben sie sich wieder, nach Jahren des Schweigens. Stefan lebt in Hamburg, arbeitet als Redakteur bei einer großen Wochenzeitung. Theresa lebt in Brandenburg, bewirtschaftet den Hof ihrer Eltern, kämpft mit Trockenheit, Behörden, Bürokratie und einer Gesellschaft, die sie nicht mehr versteht.

Von Anfang an ist klar: Diese beiden haben sich etwas zu sagen. Und gleichzeitig scheint jede Mail ein Tanz auf dem Drahtseil. Da ist einerseits Zuneigung, Verletzung, Enttäuschung und alte Vertrautheit, andererseits aber auch eine politische Kluft, die sich immer weiter auftut. Stefan steht für das urbane, westdeutsch geprägte Milieu: weltoffen, akademisch, journalistisch geschult, medienaffin. Theresa hingegen verkörpert das, was man so leichtfertig "abgehängt" nennt: Land, Osten, Wut auf Eliten, Kritik am System. In ihren E-Mails prallen nicht nur Meinungen aufeinander – es sind Lebensentwürfe, Erfahrungen, Perspektiven. Und genau das macht diesen Roman so aktuell und berührend.


Was Zwischen Welten so besonders macht, ist, dass es nicht moralisierend daherkommt. Keine Figur ist “die Gute” oder “der Böse”. Ja, Stefan ist manchmal arrogant. Ja, Theresa klingt hin und wieder nach Querdenker-Forum. Und trotzdem (oder gerade deswegen?) habe ich beide ins Herz geschlossen. Weil sie in all ihren Widersprüchen so menschlich sind.


Schreiben als Annäherung und Entfremdung


Ich mag Romane, die aus Mails oder Nachrichten bestehen, nicht nur wegen der besonderen Form, sondern auch wegen der Brüche. Das Format ist ideal gewählt: Durch den Nachrichtenaustausch bleibt vieles unausgesprochen, entstehen Missverständnisse, rutschen Gefühle zwischen die Zeilen. Manchmal reden Stefan und Theresa aneinander vorbei, manchmal treffen sie sich ganz plötzlich in einem gemeinsamen Gedanken.


Der Leser wird zum stillen Mitleser eines Dialogs, der sich an der Grenze zwischen Annäherung und Bruch entlangschlängelt. Genau das erzeugt Spannung und immer wieder das Gefühl: Das kenne ich! So spricht man mit alten Freunden, wenn Weltsicht und Alltag plötzlich nicht mehr zueinander passen.


Der Austausch zwischen Theresa und Stefan ist wie ein Seismograph unserer Gegenwart. Wie reden wir miteinander, wenn wir völlig unterschiedlich auf die Welt blicken? Theresa spricht über das Leben auf dem Land, das Misstrauen gegenüber Medien, das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden. Stefan antwortet mit Argumenten, mit Haltung, mit dem Wunsch, die Debatte zurück auf den Boden der Fakten zu holen. Doch wie oft reden sie eigentlich wirklich miteinander? Und wie oft nur aneinander vorbei?


Klischees... und dann wieder nicht!


Die Figuren bedienen Klischees. Hier der linksliberale Großstadtjournalist, dort die wütende ostdeutsche Bäuerin. Und dennoch: Je mehr man liest, desto mehr verschwimmen die Schubladen. Stefan zeigt Zweifel, Unsicherheit, Zerrissenheit. Theresa zeigt Verletzlichkeit, Wärme, Intelligenz. Ich habe bei beiden Sätze unterstrichen, die mir aus der Seele sprachen. Bei beiden habe ich gedacht: “So würde ich es nie sagen, aber dennoch verstehe ich, woher das kommt.”


Zeh und Urban gelingt etwas, was nur wenige Romane schaffen: Sie lassen ihre Figuren leben. Und sie trauen dem Leser etwas zu. Kein erhobener Zeigefinger, keine einfache Lösung. Nur zwei Menschen, die versuchen, miteinander im Gespräch zu bleiben – und damit etwas unglaublich Wertvolles tun.


Zwischen Nähe und Bruch


Was das Buch so emotional macht, ist die Geschichte zwischen den Zeilen. Die alte Vertrautheit, die immer wieder aufblitzt. Die Erinnerungen an früher. An das gemeinsame Zelten, die Lieder, die Träume. Und das Wissen: Wir sind auseinandergegangen, aber wir sind uns nicht egal.


Diese Mischung aus politischem Diskurs und emotionaler Geschichte ist für mich die große Stärke des Romans. Weil er nicht neutral sein will. Weil er Partei ergreift für das Gespräch, die Auseinandersetzung und für die Schwierigkeit, einander wirklich zuzuhören.


Es ist ein Roman über Freundschaft, die fast zerbricht – und vielleicht doch eine Zukunft hat. Über zwei Lebensrealitäten, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und trotzdem einen gemeinsamen Ursprung haben. Und über ein Land, das sich fragen muss, wie viel Dialog es noch aushält.


Mein Fazit: Ein Muss für unsere Zeit


Wenn du literarisch erzählte Gesellschaftsanalysen magst, wirst du dieses Buch lieben. Wenn du Briefromane magst, sowieso. Und wenn du Freude daran hast, Menschen durch Sprache näher kennenzulernen, dann ist Zwischen Welten ein echtes Geschenk. Es ist klug, emotional, pointiert. Ein Roman, der zum Weiterdenken anregt. Und einer, der sich wunderbar in den Kontext einer Website wie meiner fügt - wo Sprache, Literatur und menschliche Verbindungen im Mittelpunkt stehen.


5 Sterne - Absolute Leseempfehlung!


Titel: Zwischen Welten

Urheber: Zeh, Juli / Urban, Simon

Verlag: Lichterhand

Erscheinungstermin: 25.01.2023

Produktform: Hardcover

Seitenanzahl: 448

ISBN: 978-3-630-87741-9


Titel: Zwischen Welten

Urheber: Zeh, Juli / Urban, Simon

Verlag: btb

Erscheinungstermin: 10.07.2024

Produktform: Softcover

Seitenanzahl: 448

ISBN: 978-3-442-77424-1


Auch als Hörbuch auf Audio-CD und bei Audible sowie als Kindle E-Book erhältlich.


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